Home  trenner  Meldungen  trenner  35 Jahre Tschernobyl: Mit den Erneuerbaren Energien raus aus der Atomkraft

35 Jahre Tschernobyl: Mit den Erneuerbaren Energien raus aus der Atomkraft

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl vor 35 Jahren hat die Anti-Atom-Bewegung im Kampf für Erneuerbare Energien bestärkt. Bilder: © IAEA Imagebank wikimedia (CC BY-SA 2.0),  janis96 | wikimedia (CC BY 2.0)

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl vor 35 Jahren hat die Anti-Atom-Bewegung im Kampf für Erneuerbare Energien bestärkt. Bilder: © IAEA Imagebank wikimedia (CC BY-SA 2.0), janis96 | wikimedia (CC BY 2.0)

(26.4.2021) Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl vor 35 Jahren hat Menschen weltweit alarmiert: Atomenergie birgt ein unkalkulierbares Risiko! Tschernobyl befeuerte den Protest gegen die Atomkraft. Zugleich war es die Geburtsstunde des Umweltinstitut München e.V. - Mit Messungen und Expertise informieren wir seitdem die Öffentlichkeit über Strahlenbelastung und Gefahren der Atomenergie.

Heute, im Jahr 2021, gilt in Deutschland ein Beschluss zum Atomausstieg – der hat allerdings Schwächen. Zwar sollen Ende 2022 die letzten Reaktoren vom Netz, doch ungelöst ist das Atommüllproblem. Wie und wo soll der tödlich strahlende Müll für die zum Abklingen notwendige Zeit von über einer Million Jahre eingeschlossen werden? Und deutsche Atomfabriken exportieren weiterhin Brennstoff an AKW weltweit. Für den deutschen Ausstiegsbeschluss spielte nicht nur der Protest gegen Atomanlagen eine wichtige Rolle. Ohne den Aufbau von Alternativen, ohne die Pionierarbeit von Atomkraftgegner:innen wären Sonnen- und Windenergie heute noch lange nicht so weit.

Im Interview sprechen wir mit Raimund Kamm, einem langjährigen Vorkämpfer für den Ausstieg aus der Atomkraft, über persönliche Erfahrungen, die Geschichte und Erfolge der Anti-Atom-Bewegung sowie die Zukunft der Energiewende.

? Raimund, 1986 warst Du 34 Jahre alt. Welche Erinnerungen hast Du an die Tschernobyl-Katastrophe?

Der 26. April 1986 war ein Samstag, glaube ich. Am Sonntag hörte ich unterwegs im Radio im Hotel am Bodensee, dass ein Atomreaktor in der Ukraine brenne. Das hat mich alarmiert, denn ich wusste: Wenn ein Reaktor brennt, dann ist etwas wirklich außer Kontrolle geraten. Das Seminar dauerte bis Mittwoch. Auf dem Rückweg im Zug zwischen Ulm und Augsburg sah ich ein wunderschönes Wetter aufziehen, begleitet von einem selten starken Gewitterregen. In Folge hat Augsburg deutschlandweit am meisten Radioaktivität abbekommen – gemessen in Becquerel, nach den damaligen Statistiken. Wir wussten das damals nicht. Meine Frau ist mit unseren beiden Buben in den radioaktiven Regen gekommen. Auch am Donnerstag, dem 1. Mai, waren wir bei Freunden im Garten, und haben uns nichts dabei gedacht. Wir wussten nicht, dass die Strahlung von radioaktivem Iod-131 am Himmel an diesem Tag am stärksten war. An diesem Tag hätte man sich definitiv nicht im Freien aufhalten sollen.

? Warst Du schon damals in der Anti-Atom-Bewegung aktiv?

Nun ja, eine Anti-Atom-Bewegung gab es damals nicht so wirklich. Wir hatten eine starke Gruppe, die sich gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf engagierte. Auch nach Tschernobyl haben wir Demos organisiert und dem lokalen AKW-Betreiber verstrahltes Gemüse vors Tor gekippt. Politisch waren wir eher in der Friedensbewegung verortet. Heute hat mich ein Arzt, mit dem ich damals gegen Wackersdorf demonstrierte, im Corona-Impfzentrum empfangen. Wir haben uns gleich wiedererkannt.

? Hätte denn schon damals, vor 35 Jahren, der Atomausstieg durchgesetzt werden können?

Ja und nein. Ein dreiviertel Jahr später hatten wir vom Haushaltsausschuss des Landtags ein Gespräch mit den Isar-Amper-Werken, an denen der Freistaat Bayern Anteile hatte. Ich war mittlerweile Abgeordneter der Grünen, aber als solcher nicht ohne weiteres zu erkennen, da ich Anzug und Krawatte trug. Im Gespräch wurde klar: Die Tschernobyl-Katastrophe hatte auch Atomkraftbefürworter schockiert und verunsichert. So etwas hatten sie nicht für möglich gehalten. Wenn es schon damals politische Kräfte gegeben hätte, die auf Augenhöhe mit Industrie und Regierung hätten verhandeln können, hätte es eine reale Chance für den Atomausstieg gegeben. Meine Erfahrung aus 40 Jahren Umweltarbeit ist: Der Druck von der Straße ist wichtig, muss aber auch in Parlamenten und Industrie umgesetzt werden, damit es zum Erfolg kommt. Und da waren wir noch nicht stark genug. Auch in den weiteren Jahren hat sich gezeigt, dass es auf die Parlamente ankommt. Anfang der 90er Jahre hat es Ausstiegsversuche gegeben, 2000 und schließlich 2011. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass der Atomausstieg von 2011 zu langsam und zu schwach war.

? Beim Ausstieg aus der Atomkraft kommt ja oft die Frage nach der Alternative auf. Schon in den 1970er Jahren war die Anti-Atom Bewegung eng mit Pionierarbeit für Ökoenergie verwoben. Was war Dein erster Berührungspunkt mit den erneuerbaren Energien und der Energiewende?

Schon Anfang der 1970er hatte man, ausgelöst durch die Ölkrise, ein gewisses Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Energiewende. Auch wenn es schnell verflog, so sind einige drangeblieben. Ich selbst habe Anfang der 1980er Jahre, wohl bei einer Veranstaltung zu Wackersdorf, die ersten Solarthermieanlagen gesehen. Wasserkraft gab es schon immer. Aber wenn frei fließende Flüsse in eine Staustufenkette umgebaut werden, schädigt das die Natur. Die ersten Windkraftanlagen und Photovoltaikanlagen habe ich Anfang der 1990er Jahren wahrgenommen, natürlich hatten die nicht so viel Leistung wie heute.

? Welche Schritte waren für Dich entscheidend in der Entwicklung hin zu 100 Prozent Erneuerbare Energie?

Das legendäre Stromeinspeisegesetz 1990 war wichtig. Der große Sprung kam dann als die Bundesregierung 2000/2001 mit Umweltminister Trittin erkannt hat, dass der Ausbau der Erneuerbaren für den Atomausstieg zu langsam war. Sie hat dann hohe Förderungen für Biogas eingeführt. Zwischen 2000 und 2010 hatte Biogas den größten Anteil des Zubaus an Erneuerbaren. Das wird oft vergessen. Und auch Photovoltaik und Windkraft liefen in der Zeit hoch. Anti-Atom-Demos waren nicht alles. Mit dem Zubau der Erneuerbaren konnten wir die größten Erfolge erzielen. Durch den Aufbau von Alternativen und den Einspeisevorrang haben wir die Atomkraft verdrängt – und auch die Kohle. Heute haben wir in Deutschland rund 50 Prozent Ökostrom-Anteil. Ich bin damit nicht zufrieden, der Atomausstieg und der Klimaschutz könnten und müssten viel schneller gehen. Aber es ist dennoch eine hohe Leistung, die wir da hinbekommen haben.

? Nun hast Du den Klimaschutz selbst angesprochen. Um die schlimmsten Folgen der Klimakrise abzuwenden, müssen wir den Klimaschutz beschleunigen. Wir müssen die Treibhausgasemissionen deutlich schneller herunterfahren. Was sind aus Deiner Sicht die nächsten wichtigen Schritte? Und die größten Hindernisse?

Am wichtigsten ist es, Photovoltaik und Wind konsequent auszubauen. Den Platz dafür haben wir, und PV und Windenergie sind auch sehr preiswert geworden. Wir können sie in Bayern in großen Anlagen teils unter 5 Cent die Kilowattstunde erzeugen! Für die Dekarbonisierung von Wärme, Verkehr und Industrie wird der Stromverbrauch steigen, auch wenn insgesamt massiv Energie eingespart wird. Erst gestern habe ich dazu einen Vortrag beim Klimabeirat der Stadt Augsburg gehalten. Künftig werden wir elektrische Wärmepumpen haben, Elektromobilität und in der Industrie brauchen wir grünen Wasserstoff. Dafür müssen wir viel mehr erneuerbaren Strom einsetzen.

Der konsequente Ausbau der Erneuerbaren ist jetzt also enorm wichtig. Doch es gibt auch eine Gegenlobby. Die Atomkraft hat in Deutschland keine Lobby mehr. Heute ist es vor allem die Erdgasindustrie, die die Energiewende verzögert. Denn Gaskraftwerke sind die ersten, die zurückgeregelt werden, wenn viele Erneuerbare im Netz sind.

Wir haben nun eine Brücke geschlagen von der Tschernobyl-Katastrophe, den Anfängen der Anti-Atom-Bewegung, den Wackersdorf-Protesten hin zu 100 Prozent Erneuerbarer Energie ...

… eine Entwicklung, für die ich auch mit meinen Rollen in Initiativen und Verbänden stehe.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Raimund Kamm, geboren 1952, ist im Vorstand des Vereins „FORUM Gemeinsam gegen das Zwischenlager und für eine verantwortbare Energiepolitik e.V.“, Vorsitzender des LEE Bayern (Landesverband Erneuerbare Energie Bayern), Mitglied im BUND Naturschutz Bayern und im Landesbund für Vogelschutz (LBV). Er war von 1986 bis 1997 als GRÜNER für Schwaben im Bayerischen Landtag und ist seit 1998 parteifrei.

Zurück nach oben